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Glatzer Gebirgs-Verein
(GGV) Braunschweig e.V.

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Aktuelles aus dem Glatzer Gebirgs-Verein

125 Jahre GGV

1881 - 2006 = 125 Jahre
Glatzer Gebirgs-Verein

Festvortrag zur großen
Jubiläumsfeier am 13. Mai 2006 in Braunschweig

Arno Herzig

Die Geschichte der Grafschaft Glatz
und ihre Verbindungen zum Herzogtum Braunschweig

Dieses am heutigen Jubiläumsfest des Glatzer Gebirgsvereins in Braunschweig nahe liegende Thema des Festvortrages bereitet dem Referenten allerdings einige Schwierigkeiten; denn auf den ersten Blick gibt es kaum Verbindungen zwischen diesen beiden ca. 600 km auseinander liegenden Territorien. Das Glatzer Land, das seit seiner ersten Erwähnung 981 im Herrschaftsbereich der Böhmischen Krone immer eine eigene Rolle gespielt hat, wurde 1459 von dem böhmischen König Georg von Podiebrad in Übereinstimmung mit Kaiser Friedrich III. zur Grafschaft erhoben und die Söhne Georgs zu wahren Reichsgrafen ernannt. Trotz dieses vom Kaiser verliehenen Titels war die Grafschaft Glatz kein souveränes Territorium im Römischen Reich deutscher Nation. Als böhmische Grafschaft, die dem böhmischen König unterstand, gehörte sie indirekt zum Römischen Reich deutscher Nation, denn der böhmische König war zugleich Kurfürst des Reiches. Der böhmische König war der Oberherr der Grafschaft Glatz. Landesherren waren zunächst die Söhne Georgs, ab 1472 Heinrich der Ältere, der mit seiner brandenburgischen Gemahlin Ursula Glatz als Residenzsitz einrichtete, was an dem Ausbau bzw. Weiterbau der Burg und der Pfarrkirche sowie an der Errichtung eines Franziskanerklosters deutlich wird. Leider verkauften die Podiebrad 1498 die Grafschaft, um die schlesischen Herzogtümer Münsterberg und Öls zu erwerben. Die nun folgenden Pfandherren, das waren die Grafen von Hardegg, die böhmisch-mährische Magnatenfamilie Pernstein sowie seit 1548 der ehemalige Fürsterzbischof von Salzburg Ernst von Bayern, der sein Fürstbistum aufgeben musste, da er sich nicht die geistlichen Weihen erteilen lassen wollte. Als er 1560 starb, wurden die Grafschafter Stände aktiv, zahlten an Bayern die Pfandsumme und verpflichteten die Habsburger, die seit 1526 als böhmische Könige Oberherren der Grafschaft waren, diese nicht wieder zu verpfänden. Die Habsburger hielten sich daran. Sie waren nun als Könige von Böhmen die direkten Landesherren der Grafschaft, bis 1618 die Glatzer Stände mit den böhmischen und den schlesischen Ständen zusammen den pfälzischen protestantischen Kurfürsten Friedrich zum böhmischen König wählten, was bekanntlich den Dreißigjährigen Krieg auslöste. Friedrich regierte allerdings nur einen Winter, weshalb ihn seine Zeitgenossen als Winterkönig verspotteten; denn 1620 verloren die Truppen Friedrichs die Schlacht am Weißen Berg bei Prag gegen die Armee der katholischen Liga und Friedrich musste Hals über Kopf seine Residenz verlassen. Er floh über Glatz und Breslau zu seinem Schwiegervater, dem englischen König nach London. Sein Anrecht auf den böhmischen Thron gab er jedoch nicht auf, und darin unterstützten ihn auch die Glatzer, die als einzige im gesamten Königreich noch 2 Jahre lang, bis zum Oktober 1622 ihre Stadt gegen die kaiserlichen Truppen verteidigten. Nach der Eroberung rechneten die Habsburger mit den Rebellen ab. Zwar gab es keine Hinrichtungen mehr wie in Prag, aber der einheimische Adel verlor, von wenigen Ausnahmen abgesehen, seine Lehen. Ein neuer weitgehend österreichischer Adel, der loyal gegenüber dem Habsburger Herrscherhaus war, etablierte der Kaiser im Land. Neuer Landesherr der Grafschaft Glatz wurde der Bruder des Kaisers und Breslauer Bischof Karl und nach dessen Tod 1627 der Sohn des Kaisers Ferdinand, ab 1637 dann Kaiser Ferdinand III., der – wie wir sehen werden – auch seine Bedeutung für das Herzogtum Braunschweig haben sollte. Die Glatzer Stände und Städte wurden zwar 1629 durch Ferdinand II., neu privilegiert, unterstanden aber nun dem habsburgischen Absolutismus. Die Stände der Grafschaft – und das unterschied sie von den braunschweigschen Ständen – unterstanden dem Landesherren, übten also – wie die es in Braunschweig taten – keine eigene Herrschaft mehr aus; die Freirichter der Grafschaft, einer der wenigen bäuerlichen Stände, die es im Reich gab, wurden als Stand abgeschafft. Die Städte traf eine besondere Strafe. Sie mussten für jedes Fass Bier ½ Gulden Rebellionsstrafe zahlen. Diese Steuer wurde über 100 Jahre lang erhoben, bis die Preußen ab 1742 neue Steuern einführten. In den Schlesischen Kriegen hatte Friedrich II. von Preußen die Grafschaft Glatz aus strategischen Gründen gleich mit erobert und sie in Schlesien eingegliedert. Als eigenes Territorium blieb sie allerdings erhalten, denn alle Edikte wurden nun für Schlesien und die Grafschaft Glatz erlassen. Dem böhmischen König – dies war zeitweilig der Wittelsbacher Karl VII. – musste Friedrich für die Grafschaft Glatz 400.000 Taler zahlen. Die Grafschaft gehörte nun bis 1945 zu Preußen. Dies in Kürze die Geschichte des Glatzer Territoriums, seine Rolle im Dreißigjährigen Krieg und seine Bedeutung im Habsburgerreich. Hier aber werden Parallelen zum jüngeren Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel deutlich, dessen Geschichte eigentlich erst mit Herzog August, dem bekannten Begründer der nach ihm benannten Herzog-August-Bibliothek einsetzt. Als er 1635 seine Herrschaft antrat, hielten die kaiserlichen Truppen sein Land und seine Residenzstadt Wolfenbüttel besetzt. Der Herzog bemühte sich gegen den Willen seiner welfischen in Celle und Hannover residierenden Vettern um einen Separatfrieden mit Kaiser Ferdinand III., den er endlich 1642 erreichte. Ende 1643 konnte der Herzog seine Residenzstadt Wolfenbüttel in Besitz nehmen. Wie Glatz war auch Wolfenbüttel als Festung von hohem strategischem Wert, was die Friedensabschlüsse immer wieder erschwerte.

Während die Stadt Glatz bereits nach 100 Jahren, nämlich 1560, ihren Charakter als Residenzstadt verlor, entwickelte sich Wolfenbüttel seit 1643 und in seiner Folge Braunschweig ab 1753 in dieser Funktion zu einem kulturellen Zentrum Deutschlands. Braunschweigs Fürsten brillierten als Wissenschaftler und Kunstmäzene, nicht aber – von einer Ausnahme abgesehen – als Feldherren. Braunschweig machte auf geistigem Gebiet Eroberungen, nicht aber im geographischen Sinne. Selbst im Westfälischen Frieden von 1648, als das benachbarte Brandenburg sein Gebiet durch die ehemaligen geistlichen Fürstbistümer Magdeburg, Halberstadt und Minden arrondierte, ging Braunschweig leer aus, ja es musste sogar das so genannte Große Stift des benachbarten Fürstbistums Hildesheim wieder herausgeben, das es in der so genannten Hildesheimer Stiftsfehde 1523 gewonnen hatte. Ungefähr 2 ½ mal so groß wie die Grafschaft Glatz überdauerte das Fürstentum nicht nur den Wiener Kongress von 1825 und den preußisch-österreichischen Friedensschluss von 1866, als Preußen fast den gesamten Norden Deutschlands unter seine Herrschaft brachte. Also auch hier kamen Braunschweig und die Grafschaft Glatz unter der Herrschaft Preußens nicht zusammen.

Die Braunschweiger verfolgten keine absolutistische Herrschaft, denn die Landstände blieben Mitregenten. Zu ihnen zählten die Prälaten der säkularisierten ehemaligen Klöster und Stifte, die Adligen sowie die Vertreter der Städte. Die Stadt Braunschweig behielt fürs Erste, bis zu ihrer endgültigen Unterwerfung durch die Herzöge 1753 eine unabhängige Stellung, ähnlich der der Reichsstädte. Auch über ihre Konfession konnte die Stadt selbst bestimmen. Sie übernahm bereits 1528 die lutherische Lehre, während das Land hierin erst 1568 folgte. Das Herzogtum Braunschweig war damit der letzte Territorialstaat nördlich des Mains, der die lutherische Reformation einführte. Die Fürsten dieser Zeit waren gleichzeitig die Oberhäupter der Kirche in ihrem Territorium. Sie bestimmten die Konfession ihrer Untertanen nach dem Rechtssatz: „cuius regio, eius religio“, das heißt: „Wessen Herrschaft, dessen Religion.“ Die Braunschweiger Herzöge aber gaben sich nicht als streng lutherische Kirchenherren, obgleich der erste protestantische Herrscher, Herzog Julius, 1576 mit Helmstedt eine evangelische Universität gründete und seine Untertanen ihm im lutherischen Glauben folgen mussten. Dennoch: Konversionen aus machtpolitischen Gründen zum Katholizismus, wie 1709 bei dem 77-jährigen Herzog Anton Ulrich, kamen durchaus auch vor. Zwei Jahre zuvor (1707) hatte Herzog Anton Ulrich seine Enkelin Elisabeth Christine zum gleichen Schritt gezwungen, um sie mit dem kaiserlichen Prinzen, dem nachmaligen Kaiser Karl VI. vermählen zu können. Seine lutherischen Untertanen mussten ihm in seinem Glaubenswechsel allerdings nicht folgen, sondern durften der Kirchenordnung gemäß lutherisch bleiben. Aber es war nicht nur machtpolitisches Kalkül, das die Braunschweigschen Landesherren, vor allem Herzog August, zu einem toleranten Luthertum veranlasste. An seiner Landesuniversität Helmstedt mit ihrer damals wohl bedeutendsten Theologischen Fakultät in Deutschland lehrte Georg Calixt (1586-1651), dessen Name im 17. Jahrhundert für ein Programm stand, nämlich für ein irenisches, unionstheologisches Programm, dessen Notwendigkeit der gerade zu Ende gegangene Dreißigjährige Glaubenskrieg bewiesen hatte. Calixt vertrat in zahlreichen Schriften und Streitgesprächen die Auffassung, dass der Friede unter den Religionen und Konfessionen zu erreichen sei, wenn man sich auf bestimmte „Fundamentartikel“ besänne, in denen alle Kirchen ihrer Existenz und ihrer Geschichte wegen übereinstimmten. Herzog August sorgte dafür, dass die Stellen in seinem Konsistorium, der oberen Kirchenbehörde also, mit Anhängern Calixts besetzt wurden.

Anders dagegen war die Konfessionspolitik in der Grafschaft Glatz gelaufen. Die Grafschafter hatten sich seit den 1530er Jahren weitgehend der Lehre des schlesischen Reformators Caspar von Schwenckfeld angeschlossen. Da Schwenckfeld Jurist war, ging seine reformatorische Lehre auf den bedeutendsten reformatorischen Theologen Schlesiens dieser Zeit, Johann Sigismund Werner, zurück, der von 1539-1554 als Pfarrer in Rengersdorf nahe Glatz wirkte. Nach den gegenreformatorischen Versuchen unter dem Landesherren Herzog Ernst von Bayern (Reg. 1549-60) schlossen sich die Grafschafter n ach dessen Tod (1560) weitgehend der lutherischen Lehre an, die nun im Land bis 1622 bestimmend blieb, da die Habsburger bis dahin ihre katholische Kirchenherrschaft, ihr cuius regio, eius religio, nicht durchzusetzen vermochten. Es blieben nur kleinere katholische Inseln, so das Augustiner-Chorherrenstift in Glatz und die Stiftsdörfer um Altwilmsdorf. 1595 übergab Papst Clemens VIII. das Glatzer Augustiner-Chorherrenstift dem Jesuitenorden. Erst nach der – wie wir sahen – um 2 Jahre verzögerten Bezwingung der Glatzer 1622 vermochten die Habsburger gewaltsam ihre Kirchenherrschaft durchzusetzen. Dies geschah zunächst auch mit Gewalt; denn die katholische Religion als einzige Religion im Staat bildete bis zur Herrschaft Kaiser Josephs II. (ab 1780) einen der wichtigsten Machtpfeiler der Habsburgerherrschaft. Die Habsburger als Landesherren haben dies mit einem starken Bevölkerungs- und auch Eliteverlust bezahlen müssen. Die Bevölkerung der Grafschaft Glatz beugte sich dem, soweit sie nicht abwanderte, nur widerwillig. Noch zwei Generationen lang, bis in die 1680er Jahre, sind Spuren eines Kryptoprotestantismus festzustellen. Doch ab den 1680er Jahren ist eine starke Verinnerlichung des Katholizismus nachweisbar. Der von den Jesuiten, aber auch von dem neuen habsburgischen Adel geförderte Barockkatholizismus entfaltete sich in voller Blüte. Unter Mitwirkung der Bevölkerung erfolgte dann im ausgehenden 17. Jahrhundert die „Barockisierung“ der Grafschaft durch die Errichtung von Bildstöcken, Andachtskapellen, Heiligenfiguren und Votivtafeln. Diese Mitwirkung der Bevölkerung kann als Zeugnis einer neuen Heilserfahrung gewertet werden, die nach der durch Zwang genommenen Heilssicherung in der lutherischen Lehre und der dann folgenden langen Phase der Unsicherheit, in der der Teufelsglaube eine wichtige Rolle spielte, die Gemüter erfasste und durch die „Sakralisierung der Landschaft“ einen Schutz in einer magisch bestimmten Welt bot. Die Verinnerlichung des Barock bestimmte mit Wallfahrten, Heiligenfesten, Gelöbnistagen, Stiftungen, Bruderschaften, den Weihen alltäglicher Dinge über das ganze Jahr hin die Alltagskultur der Bevölkerung. Vor allem die Marienverehrung mit den Wallfahrtsorten Wartha, Glatz, Altwilmsdorf, Albendorf und später Maria Schnee beweist die innere Akzeptanz des Barockkatholizismus durch die Bevölkerung. Die Mirakelbücher von Glatz, Albendorf und Altwilmsdorf aber noch stärker die Legendenbildungen zeugen von der Verinnerlichung einer neuen Heilsgewissheit, in der der Teufel durch Maria besiegt wurde. Durch den Barockkatholizismus gelang die allmähliche Akzeptanz des Katholizismus in der einfachen Bevölkerung, so dass es 1741 nach der Eroberung der Grafschaft durch Preußen keine Rückkehr zum Protestantismus gab.

Halten wir fest: Wer unter der Habsburgerherrschaft etwas werden wollte, musste katholisch sein. Für Herzog Anton Ulrich – um zur braunschweigschen Geschichte zurückzukommen, hat sich das nicht ausgezahlt. Braunschweig hat durch die Konversion Anton Ulrichs weder die Kurwürde noch das Bistum Hildesheim bekommen. Eher zahlte sich die Konversion für seine Enkeltochter Elisabeth Christine aus, die sich nach langem Widerstreben zur Konversion entschloss, um 1708 den Kaiserprinzen Karl zu heiraten, der zu diesem Zeitpunkt noch als König von Spanien vorgesehen war und in Barcelona residierte. Zu den engsten Beratern Karls gehörte damals der 1680 in Glatz geborene und dort von den Jesuiten erzogene Michael Friedrich Graf von Althann, der 1719 zum Kardinal aufstieg und später als Vizekönig von Neapel-Sizilien fungierte. Es mochte wohl das erste Mal sein, dass eine Prinzessin des Braunschweiger Herrscherhauses auf einen Grafschafter Adligen traf, bevor sie dann 1711 durch ihre Krönung zur Königin von Böhmen auch zur Landesmutter der Grafschaft Glatzer Bevölkerung wurde. Diese Stellung hatte sie bis zum Tod ihres Gemahls 1740 inne. Obgleich die Grafschaft Glatz nur 200 km von Wien entfernt liegt, hat die Kaiserin das Land nie besucht. Die Habsburger waren sich der Loyalität der Grafschafter sicher, auch wenn sie seit ca. 150 Jahren nicht mehr ins Land gekommen waren. Die prägende Kultur der „pietas Austriaca“, das heißt die bewusst ausgeübte katholische Staatsreligion, die geistliche Zeugnisse mit Herrschaftssymbolen verband, wie die Pestsäule in Wien verdeutlicht, war auch für die Grafschaft prägend. Auch hier fand man an den Heiligenfiguren oder Pestsäulen den kaiserlichen Doppeladler bzw. die Wappen seines Adels. Bekanntlich blieb Kaiser Karl VI. ohne männliche Erben und damit der letzte männliche Habsburger. Seine Tochter Maria Theresia, durch ihre Mutter eine „halbe Braunschweigerin“, wurde 1740 Königin von Böhmen und damit auch Gräfin der Grafschaft Glatz, bevor sie 1742 im Berliner Frieden das Land an König Friedrich von Preußen ab treten musste. „Er hat mir Schlesien genommen und meine Grafschaft Glatz“, diesen Satz der Kaiserin haben die Grafschafter immer als besondere Hervorhebung ihres Landes verstanden, obgleich an ihrer Loyalität zu ihrem neuen Landesherren Friedrich trotz der unterschiedlichen Konfession nicht zu zweifeln war.

Die Braunschweiger haben im 18. Jahrhundert eine umsichtige Heiratspolitik mit ihren Töchtern betrieben, so dass sie mit den führenden europäischen Herrscherhäusern verschwägert waren. So ergab sich, dass auch Friedrich II, dessen Mutter ebenfalls eine Braunschweigerin war, mit einer Braunschweigerin verheiratet wurde. Sie hieß ebenfalls Elisabeth Christine und war die Cousine von Maria Theresia. Dass sie nie in der Öffentlichkeit erschien, hing mit der unglücklichen Ehe der Beiden zusammen, und so besuchte auch diese Braunschweigerin, obgleich bis 1786 auch Gräfin von Glatz, nie dieses Land. Dafür aber ihr Bruder, Herzog August Wilhelm, der im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) als Feldherr im Dienst seines Schwagers Friedrich II. stand. 1760 hatten im Siebenjährigen Krieg die Österreicher die Grafschaft Glatz noch einmal zurückerobert, und sie vermochten über den Friedensschluss von Hubertusburg (30.12.1762) die Festung Glatz noch bis zum 18. März 1763 zu behaupten. Maria Theresia wollte auf keinen Fall diesen „Schlüssel zu Böhmen“, wie sie die Grafschaft bezeichnete, herausgeben. Doch Friedrich II. war bereit, daran den ganzen Frieden scheitern zu lassen. Und so musste die Kaiserin an besagtem 18. März 1763 Stadt und Festung Glatz mit allen Kanonen und Mörsern nebst Munition ihrem „Cousin“ Herzog August Wilhelm von Braunschweig übergeben, der nun das Land beherrschte. Am 22. März 1763 empfing er König Friedrich II. in Glatz und hielt mit ihm das Siegesmahl. Nicht nur die Preußen, sondern auch die Braunschweiger hatten damit die Grafschaft Glatz – wenn auch nur für kurze Zeit – in Besitz genommen. Hier begegnen sich einmal sehr eng die Braunschweiger und die Grafschafter Geschichte. Doch nicht darauf zurückzuführen ist, dass beide Territorien rote und goldene Balken in ihrem Wappen führen.

Wenn die Braunschweiger Herzöge, von dem bekannten Herzog August einmal abgesehen, als verschwenderische Herrscher galten, so vermochten sie ihr Land doch zu einem der führenden Kulturstaaten im Alten Reich zu entwickeln. Dies drückte sich nicht primär in der Architektur aus, aber im Theater-, Musik- und Geistesleben. Braunschweig hatte die erste Oper in Deutschland, die 1690 durch Herzog Anton Ulrich errichtet wurde. Der Herzog selbst gehörte zu den führenden Barockdichtern seiner Zeit. Im Herzogtum gab es, von Kiel abgesehen, die einzige Universität in Norddeutschland, der erst 1737 mit der Gründung der Universität Göttingen durch die stets konkurrierenden welfischen Vettern der Rang abgelaufen wurde. Braunschweig verfügte zudem durch die Gründung Herzog Augusts über die bedeutendste Bibliothek Deutschlands im 17. und 18. Jahrhundert, mit der allenfalls noch die Breslauer Bibliotheken konkurrieren konnten, nachdem die Heidelberger Palatina in den Vatikan abgegeben worden war. Die 135.000 Bücher der Herzog-August-Bibliothek präsentieren die gesamte Breite des Wissens bis ins 18. Jahrhundert. 31.000 Bände davon gingen auf die Anschaffungen Herzog Augusts zurück. Die Mittel dafür erwarb er durch einen umsichtigen Aufbau der Wirtschaft des Landes nach dem Dreißigjährigen Krieg. Dazu gehörte auch die Förderung des Bergbaus im Harz, in der Landschaft seines Territoriums, die von ihrer landschaftlichen Schönheit und ihrer gewerblichen Struktur der Grafschaft Glatz am Ähnlichsten ist. Es ist den Nachfolgern Herzog Augusts zu danken, dass sie den Schatz der Bibliothek hüteten und diese Sammelleidenschaft weitervererbten. So ist – leider muss man heute sagen: war – die Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek die Schöpfung einer Braunschweiger Prinzessin. Wie mit dieser Bibliothek der Name Goethe, so ist mit der Herzog-August-Bibliothek der Name Lessing verbunden, der nach seiner Breslauer und dann Hamburger Zeit ab 1770 als Bibliothekar in Wolfenbüttel die letzten 10 Jahre seines Lebens verbrachte und hier erst 52-jährig 1781 verstarb. Lessings großes Werk seiner Wolfenbütteler Zeit ist „Nathan der Weise“, das Werk, das mit seiner Ringparabel das Zeitalter eines engstirnigen Konfessionalismus besiegelte. Die Form der Parabel, des Gleichnisses also, weist darauf hin, dass auch Lessing in dem liberalen Braunschweig noch nicht frei schreiben durfte, wie die Zensurvorschrift des Herzogs im so genannten Fragmentenstreit des Dichters zeigt. Die Aussage dieses literarischen Werkes, der Nathan, war in seiner Toleranz wegweisend für die kommenden Generationen, bis sein Geist nach 1933 in sein totales Gegenteil führte und die Gegenstimmen, die auch schon im Nathan mit ihrem: „Macht nichts, der Jude wird verbrannt“ deutlich werden, die Oberhand gewannen. Der Nathan ist nicht das einzige positive Zeugnis des Braunschweiger Landes in der sonst recht tragischen gemeinsamen deutsch-jüdischen Geschichte. Wohl kaum im allgemeinen Bewusstsein ist, dass hier im Herzogtum Braunschweig ein wichtiges Kapitel des modernen Judentums eingeleitet wurde. Mit der Errichtung des so genannten Seesener Tempels initiierte der Braunschweiger jüdische Hoffaktor Israel Jacobson 1801 die Entwicklung des modernen Reformjudentums, das auch für die moderne Orthodoxie verpflichtend wurde und die Akkulturation der jüdischen Minderheit an die europäische Kultur ermöglichte. Dass die Allgemeingesellschaft in Deutschland dies erst Generationen später anerkannte, bevor sie diese gesellschaftliche Chance radikal vernichtete, war nicht die Schuld der Minderheit, sondern der Mehrheitsgesellschaft. Doch hier fallen auch negative Schatten auf die Geschichte des Braunschweiger Landes. Schon 1932 hatte das Land eine NS-Regierung, die Hitler zum Staatsrat ernannte und ihm damit den Weg in die deutsche Politik eröffnete, die dann auch für die Grafschaft Glatz fatale Folgen hatte. Aber auch in der Grafschaft Glatz war der Nationalsozialismus nicht von Außen hereingetragen worden, sondern im Land entsranden. Aber es gab hier auch Gegenkräfte, wie das Beispiel des Kaplans Hirschfelder beweist.

Doch damit ist der Bogen bis in die Zeitgeschichte gespannt. Gehen wir noch einmal in die früheren Jahrhunderte zurück. Während Glatz bereits nach 100 Jahren, nämlich 1560 seinen Status als Residenzstadt verlor, konnten sich Wolfenbüttel und ab 1753 Braunschweig als Residenzstädte dank der offenen Politik ihrer Herrscher zu kulturellen Zentren Deutschlands entwickeln. Mit dergleichen kulturellen Institutionen und Geistsgrößen wie Braunschweig vermag die Grafschaft Glatz im 17./18. Jahrhundert nicht aufzuwarten. Die strikte Gegenreformation nach 1622 hatte zu einem bedeutenden Verlust der einstigen Elite dieses Landesgeführt. Die humanistische Bürgerkultur, die sich in den Städten Glatz, Habelschwerdt und Neurode herausgebildet hatte und an den dortigen Gymnasien gepflegt wurde, wie die lateinischen Dichtungen der dortigen Lehrer und ihrer Schüler beweisen, fand nach 1622 mit deren Ausweisung ein abruptes Ende. So durfte der wohl bedeutendste Barockdichter der Grafschaft und Freund von Martin Opitz, der Arzt Georg Gloger, nach seinem Medizinstudium in Leipzig nicht mehr in seine Vaterstadt Habelschwerdt zurückkehren, was ein weiterer Freund von ihm, der Dichter Paul Fleming, in einem Zueignungsgedicht eindrucksvoll anklagt. Ein ähnliches Schicksal traf den Habelschwerdter Dichter und Humanisten Johann Gebhard, der später Bibliothekar der bekannten Rhedigerschen Bibliothek in Breslau wurde und seine Widmungsgedichte nicht nur auf Latein, sondern auch auf Griechisch verfasste. Zu den Verlusten zählt ferner der in Neurode geborene Tobias Zeutschner, einer der erfolgreichsten Komponisten der Vokalmusik seiner Zeit. Außer diversen Motetten und Gelegenheitskompositionen für Hochzeiten, Trauergottesdienste und Amtsjubiläen schrieb Zeutschner um 1660 noch vor Heinrich Schütz die Musik für die erste deutschsprachige Weihnachtshistorie in großer Besetzung. Drucke seiner Werke befinden sich auch in der Wolfenbütteler Herzog-August-Bibliothek. Ob Zeutschners Weihnachtsoratorium in Wolfenbüttel auch aufgeführt wurde, muss offen bleiben.

Die nach 1622 rigide durchgeführte Monokonfessionalisierung nach Habsburger Vorgaben setzte im Gegensatz zu Braunschweig der Entfaltung des geistigen Lebens enge Grenzen. Das Bildungsmonopol lag bei den Jesuiten, die auch über das einzige Gymnasium, das von den Grafschafter Gymnasien nach 1622 übrig geblieben war, verfügten. Zwar entfaltete auch dieses ein reges geistiges Leben und brachte berühmte Schüler hervor, blieb aber doch an die Vorgaben des Ordens gebunden, die zur Zeit der Aufhebung des Ordens (1773) durch den Papst die Kritik auch katholischer Aufklärer hervorriefen. Der nach der Auflösung des Jesuitenordens eingerichtete Schulorden, der von den ehemaligen Jesuiten gestellt wurde, führte deren Tradition weiter, wogegen der König Friedrich II. nichts einzuwenden hatte, der dieses Niveau für Katholiken angemessen fand. Die Schätze der Kollegsbibliothek mit 12.000 Bänden, darunter auch 100 Inkunabeln – das meint die Frühdrucke vor 1500 –, konnten sich freilich mit der Bibliotheca Augusta nicht messen. Glatz war keine Residenz mehr und auch als Territorium lag die Grafschaft an der Peripherie des Reiches, so dass sie für die Entfaltung geistiger Talente kaum genügend Reize bot. Auch ohne konfessionellen Zwang verließen im 18. und 19. Jahrhundert zahlreiche Musiker die Grafschaft, die in Prag, Wien und auch Breslau Bedeutung erlangten. Dennoch entfaltete sich auch in der Grafschaft ein reges Musikleben mit einer Reihe nicht unbedeutender Komponisten wie Ignaz Reimann, Musiker, die sich vor allem im Bereich der Kirchenmusik hervortaten. Zunächst unter italienischem Einfluss der so genannten Comasker, dann aber auch der einheimischen Künstler einwickelte sich die Grafschaft Glatz im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert zu einer ausgeprägten Barocklandschaft. Es entstanden durch den Grafschafter Adel zahlreiche Barockschlösser und -parks, die heute leider weitgehend ruinös sind, aber auch zahlreiche barocke Dorfkirchen, die erhalten sind und von den neuen, polnischen Grafschaftern liebevoll gepflegt werden.

Das kulturelle Leben der Grafschaft wurde im 19. und 20. Jahrhundert durch zahlreiche Vereine, Musik-, Theater-, historische Vereine und nicht zuletzt durch den vor 125 Jahren durch Oberamtsrat Franz Grützner gegründeten Glatzer Gebirgsverein bestimmt. Der Glatzer Gebirgsverein engagierte sich nicht nur als Wanderverein, wie der Name vermuten lässt, sondern auch als Historischer Verein, wie seine ab 1880 publizierten Jahresberichte, dann ab 1906 sein Organ „Die Grafschaft Glatz“ mit den seit 1911 beiliegenden „Blättern für die Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz“ zeigen. Der GGV entstand zu einer Zeit, als die Grafschaft durch den endlich nach 1870 fertig gestellten Bahnverkehr zu einem Anziehungspunkt für zahlreiche Touristen wurde, die in der Grafschaft nicht nur die Reize der Natur, sondern auch deren kulturelle Sehenswürdigkeiten erleben wollten. Nach den Jahrzehnten der wirtschaftlichen Krisen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlangte die Grafschaft Glatz durch den Tourismus und die Heilbäder einen allmählichen Aufschwung und bescheidenen Wohlstand. Der GGV hat dazu mit beigetragen. Und vielleicht eröffnet sich auch für die Zukunft hier eine Perspektive für den Verein. Die seit nun 60 Jahren in der Grafschaft Glatz wohnenden polnischen Einwohner begreifen sich seit einigen Jahren durchaus auch als Grafschafter und betrachten die über 1.000-jährige Geschichte dieses Landes, die jahrhundertelang durch ihre deutschen Bewohner, aber nicht nur durch sie, geprägt wurde, als ihre Geschichte. Nur wenn wir die neuen polnischen Grafschafter in diesem Bemühen unterstützen, hat die Geschichte und Kultur der Grafschaft eine Zukunft. Nach den langen Jahren kommunistischer Herrschaft und dem Niedergang der Industrie seit 1990 leidet die Grafschaft Glatz heute unter einer hohen Arbeitslosigkeit von 25 – 30 % der Bevölkerung. Die natürlichen Ressourcen dieses Landes, seine Naturschönheiten und Bäder, bieten heute fast die einzige Möglichkeit, bei den offenen Grenzen, die seit 2004 existieren, dem Land durch den Tourismus, ähnlich wie im 19. Jahrhundert, wieder eine Perspektive zu bieten. Vielleicht kann hier der GGV, wenn es nicht schon geschehen ist, den neuen Grafschaftern Patendienste leisten.

Festvortrag am 13. Mai 2006 in Braunschweig anlässlich der Jubiläumsfeier
„125 Jahre Glatzer Gebirgs-Verein und dessen Neugründung vor 55 Jahren in Braunschweig“

Glatzer Gebirgs-Verein (GGV) Braunschweig e.V., Postfach 22 16, 38012 Braunschweig, Tel. (0 53 03) 99 092 88

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© 2006-2019 Christian Drescher
Erste Version vom 14.05.2006, letzte Aktualisierung am 09.08.2019.